22.10.2015 (Aktualisiert 18:26 Uhr)
„Die Situation in Slowenien ist katastrophal“
Die aus Kißlegg stammende Studentin Victoria Scheyer hilft Flüchtlingen auf der Balkanroute – und erlebt dort viel Leid

Nächtlicher Marsch der Flüchtlinge an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien. AFP

Victoria Scheyer privat Helfern

Nächtlicher Marsch der Flüchtlinge an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien. AFP

Warum sind Sie nach Slowenien gefahren?
Wir sind fünf Studentinnen aus Passau. Wir haben gehört, wie schlimm hier die Lage ist und kamen hierher mit fünf Autos voller Essen, Kleidung und 3000 Euro an Spenden. Wir wollten hier Lebensmittel kaufen und sie an die Menschen verteilen.
Was haben Sie nach Ihrer Ankunft am Mittwoch an der Grenze erlebt?
Gegen zehn Uhr abends sah ich aus dem Wald viele Menschen herauskommen, sie liefen durch den Matsch und überquerten einen Fluss. Es müssen einige Tausend gewesen sein, die kroatische Polizei hatte sie einige Kilometer vor der „grünen Grenze“ abgesetzt. Die Menschen haben geschrien: „Öffnet die Grenze!“ – doch die slowenischen Militärs ließen sie nicht rein. Die Flüchtlinge standen lange auf dem Feld und froren in ihren nassen Kleidern, auch Frauen und Kinder, dann mussten sie elf Kilometer zum Camp laufen. Wir wollten Wasser verteilen, doch die Polizisten haben uns weggeschoben. Ich habe mich um einen 15-jährigen syrischen Jungen gekümmert, der seine Mutter im Chaos verloren hatte. Dann sah ich eine Frau mit einem Baby auf dem Arm, sie wirkte total entkräftet. Ich nahm ihr das Kind ab und bin einige Kilometer mitgelaufen, sie wäre sonst wahrscheinlich zusammengebrochen.
Wo sind die Flüchtlinge jetzt?
Ich sehe vier Panzer vor dem abgesperrten Lager, das an einen Schweinestall erinnert. Die Menschen sind in diesen „Laufstall“ eingepfercht, sie stehen dort im Matsch und in der Kälte unter freiem Himmel. Zelte gibt es nicht. Heute Nacht fiel die Temperatur auf drei Grad. Die Menschen sind schlecht gekleidet, manche kamen barfuß hierher. Ich hatte drei Paar Wollsocken an, eines davon habe ich einem weinenden Mann gegeben, der mich um Hilfe anflehte.
Sind Mediziner vor Ort?
Ja, aber nur sehr wenige. Ich habe ein Kind gesehen, das Schmerzen hatte und sich an den Bauch hielt. Ich bat einen Polizisten um Hilfe, doch er war nur damit beschäftigt, neue Absperrungen aufzustellen.
Wie ist die Versorgung?
Die Behörden hier sind völlig überfordert, niemand weiß, was zu tun ist. Das Rote Kreuz hat Essen verteilt, doch sie hatten nur einige Einkaufswagen voll für 3000 Menschen, die sehr hungrig waren. Es gibt im Camp kaum Toiletten, die Menschen müssen neben eigenen Exkrementen schlafen. Die Flüchtlinge brauchen vor allem Essen und Wasser, sie haben sich um die Wasserflaschen geprügelt. Manche haben mir gesagt, dass sie seit einem Tag nichts mehr getrunken haben. Wir waren bis fünf Uhr morgens im Lager und haben dort versucht, den Menschen zu helfen. Die mitgebrachten 300 Flaschen Wasser haben aber leider nur für Babies gereicht.
Haben Sie derartige Zustände schon einmal erlebt?
Nein. Ich war nach meinem Abitur ein Jahr lang in Südafrika, die Misere in den dortigen Townships ist aber nichts im Vergleich zu der Lage hier. In Passau habe ich zuletzt ein paar Wochen lang in Auffanglagern für Flüchtlinge mitgeholfen. Dort arbeiten Freiwillige und Polizei sehr gut zusammen, hier klappt aber gar nichts.
Was haben Sie jetzt noch vor?
Wir bleiben bis zum Wochenende und werden die mitgebrachte Kleidung verteilen. Die wollen hier aber keine Helfer haben, ich habe Angst, dass wir gehen müssen. Die Hilfsorganisationen müssen dringend alarmiert werden, denn die Situation der Menschen hier ist katastrophal..
zugleich in Bamberg nördlich von München

Juncker zieht die Fäden in Flüchtlingskrise
Keine Woche ohne Flüchtlingskrise: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will das dringendste Problem der EU lösen. dpaJuncker hat angekündigt, „politischer“ agieren zu wollen als sein Vorgänger Barroso. Er fühlt sich dafür zuständig, das Leid der Flüchtlinge zu mildern, und ist da ganz mit Angela Merkel einig. Doch warum lässt sich Tusk, der seit einem Jahr dem Rat der Regierungen vorsteht, von Merkel und Juncker in den Hintergrund drängen? Die simple Antwort lautet: Er wurde nicht gefragt. Vor einem Jahr wechselte Tusk aus dem Amt des polnischen Ministerpräsidenten in das des Ratsvorsitzenden, und Kritiker werfen ihm vor, dass er dort noch immer so agiert, als säße er weiterhin in Warschau.
Für die Eurorettung, die den Beginn seiner Amtszeit prägte, hat er sich nie sonderlich ins Zeug gelegt. Polen hat den Euro bislang nicht eingeführt. Stattdessen mischte er nach Kräften in der Ukraine-Krise mit, obwohl das eigentlich die Aufgabe der außenpolitischen Vertreterin der EU gewesen wäre. Im Flüchtlingsdrama bemüht sich Tusk zwar um eine ausgleichende Haltung, doch seine wahre Überzeugung kann er nicht verbergen: Europa sollte seine Grenzen dichtmachen, statt von den osteuropäischen Mitgliedsländern mehr Solidarität zu fordern. Wenn Angela Merkel durch ihre freundlichen Worte weitere Menschen zur Flucht ermutigt, soll sie die Folgen alleine tragen.
Die deutsche Bundeskanzlerin ist enttäuscht und zornig über diese Haltung, das hat sie auch öffentlich deutlich gemacht. Schließlich hätten Regimegegner aus Ungarn, Tschechien oder Polen jahrzehntelang in Westeuropa Aufnahme gefunden. Im Übrigen seien die Osteuropäer auf eigenen Wunsch dem grenzfreien Schengen-Raum beigetreten und müssten nun auch die daraus resultierenden Verpflichtungen mittragen. Da Tusk das partout nicht einsehen will, hat Merkel einen Weg gefunden, ihn elegant aufs Abstellgleis zu schieben. Jean-Claude Juncker, mit dem sie längst nicht immer einer Meinung ist, spielt dabei den bereitwilligen Bundesgenossen. Denn er genießt es sehr, politisch die Fäden zu ziehen und dabei ein Herzensanliegen voranzubringen: den fairen und menschlichen Umgang mit denen, die sich auf den mühsamen Weg nach Europa gemacht haben.
quelle/dpa/sws/nz/afp
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