Patricia schaut durch das Fenster der Frühchenstation und wartet darauf, dass die Schwester sie hineinlässt. Dreimal am Tag kommt sie für anderthalb Stunden hierher. Die Minuten des Wartens kommen ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie will nur eines: Sie will bei ihrem Sohn sein, der so klein, so schwach in seinem Bettchen liegt – umringt von Apparaten. Als sie Luciano Ricardo dann endlich auf den Arm nehmen darf, schmiegt sich sein Köpfchen sanft an ihre Brust und seine winzigen Fingerchen umklammern ihren Daumen. Patricia flüstert: „Ist er nicht wunderschön?“ Zärtlich küsst sie ihn. Auf den ersten Blick ein kleines, perfektes Familienglück. Doch wer genau hinschaut, kann die Ängste, die Fragen, die Sorgen in Patricias Blick erkennen. Denn Patricia ist gerade erst zwölf – und damit Deutschlands jüngste Mutter. Ihr Gesicht ging durch die Zeitungen, durchs Fernsehen.
Jüngste Mutter Deutschlands
Patricia erzählt: „Die anderen Mütter auf der Station, die Besucher, manche Schwestern – jeder denkt, dass ich ihre vorwurfsvollen Blicke nicht bemerke. Dass ich nicht mitbekomme, wie getuschelt wird, was ich denn für ein Mädchen sei und wie so was in einer normalen Familie passieren kann. Keinen interessiert es, wie ich, mein Freund oder meine Familie uns fühlen.“ Für alle kam die Schwangerschaft gleichermaßen überraschend. Niemand dachte sich etwas dabei, als die Liebesgeschichte zwischen Kevin (17) und Patricia vor zwei Jahren begann. Sie hatte riesigen Zoff mit ihrer besten Freundin, saß weinend auf einer Haustreppe. Als Kevin vorbeikam, konnte er an der verzweifelten Patricia nicht einfach vorbeigehen und tröstete sie. Seitdem waren die beiden unzertrennlich. Für Patricias Eltern war das eine harmlose Schwärmerei – wie bei den anderen Mädchen in der Nachbarschaft. Doch aus der Schwärmerei und ein paar zarten Küssen wurde schnell mehr… Patricia: „Kevin war so wundervoll zu mir. Er drängte mich zu nichts. Wir wollten uns einfach nur nah sein. Ganz, ganz nah.“
12-Jährige bekommt Baby
Verhütung: Hartnäckige Mythen: An Verhütung dachten die beiden dabei nicht. Gedanken, dass sie schwanger werden könnte, verdrängte sie einfach. „Ich weiß nicht, wieso, aber ich traute mich nicht, mit meiner Mutter über das Thema Sex, über das, was zwischen mir und Kevin läuft, zu reden“, gibt Patricia zu. „Irgendwie war ich doch noch immer ihre Kleine, ihr Baby. Und dann komme ich und will die Pille? Das ging gar nicht.“
„Ich kann darüber mit meinen Eltern nicht reden.“ Das ist der Schlüsselsatz, den auch MÄDCHEN- Beraterin Gabi immer wieder zu hören bekommt: „Die Ursachen dafür sind ganz unterschiedlich“, sagt sie. „Da ist einmal die Scham, mit den Eltern, die bisher maximal für kleine schulische Katastrophen zuständig waren, über intime Details zu quatschen, und andererseits die Angst vor der Reaktion der Eltern, wenn sie erkennen müssen, dass ihre Kleine erwachsen geworden ist.“ Wer aber nichts sagt – aus welchem Grund auch immer –, spielt mit dem Feuer. Dass dies nicht bloß reine Panikmache ist, beweisen die Zahlen. 2004 gab es ein Drittel mehr Teenager-Schwangerschaften als noch vor zehn Jahren. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche hat sich sogar mehr als verdoppelt. Wie es dazu kommt? Gabi kennt die Antwort: „Die Mädels haben heute im Schnitt mit 14 Jahren das erste Mal Sex. Das sind gut zwei Jahre früher als noch vor 15 Jahren Gleichzeitig hat das Wissen über Verhütung aber nicht zugenommen. Immer noch wird im Zweifelsfall die beste Freundin interviewt – und die erzählt dann auch nur das, was sie so aufgeschnappt hat. Mit Aufklärung hat so ein Halbwissen leider nicht viel zu tun.“
In Sachen Verhütung gibt es aber eindeutig bessere Berater als die beste Freundin. Oder die Eltern, mit denen einem das Thema vielleicht zu peinlich ist. Sobald du nämlich 14 bist, hast du das Recht, dir die Pille vom Frauenarzt verschreiben zu lassen – das kann dir niemand verbieten. Außerdem bleibt alles, was du mit deinem Arzt besprichst, unter euch. Es gilt die Schweigepflicht – auch deinen Eltern gegenüber. Ohne deine ausdrückliche Einwilligung darf er nicht mit ihnen reden. Dazu kommt, dass die Pille für alle Mädels bis zur Volljährigkeit kostenlos ist. Gabi: „Du kannst davon ausgehen, dass die Ärzte oder die Ärztinnen – im Gegensatz zu deiner Freundin – immer auf dem neuesten Stand rund ums Thema Verhütung sind. Wenn du also Angst hast, das Einnehmen der Pille zu vergessen, kann der Arzt dir zeigen, welche neueren Methoden besser zu dir passen, z. B. das Verhütungsstäbchen: ein etwa vier Zentimeter langer Mini- Stift, der an der Innenseite des Oberarms unter die Haut geschoben wird und ähnlich wie die Pille funktioniert. Nur, dass es drei Jahre lang wirkt. Eine rundum zuverlässige Methode.“
Familiengründung mit 12 Jahren
Hätte Patricia das alles vorher gewusst, wäre bei ihr bestimmt vieles anders gelaufen.„Klar, da bin ich mir absolut sicher“, versichert sie. „Kevin und ich hätten uns schon im Vorfeld Gedanken machen müssen, wie wir verhüten wollen. Denn wenn man erst mal kuschelnd im Bett liegt und den anderen einfach nur spüren will, schlägt man alle Bedenken in den Wind und schaltet ab. Tja, und als ich dann merkte, dass ich schwanger bin, konnte ich erst recht nichts mehr zu meinen Eltern sagen. Es war mir so peinlich. Ich hab mich so geschämt.“ Patricia unternahm alles Mögliche, um ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Sie versuchte, wenig zu essen und Diät zu machen. Sie steigerte sich in die Vorstellung hinein, wenn sie sich nur Mühe gäbe, dann würde niemandem etwas auffallen. Ihr Versteckspiel gelang.
Wann kann man schwanger werden?
Bis zu dem Abend, als der kleine Luciano-Ricardo meinte, die Zeit in Mamas Bauch sei jetzt um. Doch nicht mal in dieser Situation vertraute sich Patricia ihren Eltern an. Völlig ahnungslos brachten diese sie mit Verdacht auf eine Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Erst dort stellten die Ärzte per Ultraschall fest, was der wahre Grund für Patricias Schmerzen war: Die Wehen hatten eingesetzt. Das war für alle Beteiligten ein Schock: für die Eltern, weil sie acht Monate einfach nicht mitbekommen hatten, was passiert war, und für Patricia, weil das, was sie nicht wahrhaben wollte, jetzt nicht mehr zu leugnen war. Für lange Überlegungen, für Fragen nach dem Wie, Was, Warum blieb in diesem Moment keine Zeit mehr. Fakt war: Patricia bekam ein Baby. Nicht irgendwo und irgendwann, sondern hier und jetzt – an einem Donnerstag, morgens um 4.02 Uhr.
Als der Kleine das Licht der Welt erblickte, war er 2830 Gramm schwer und 52 Zentimeter groß. Aus den Schmetterlingen im Bauch war Leben geworden. „Heute frage ich mich, warum ich mich nicht früher meinen Eltern anvertraut habe: Wenn ich sehe, wie cool sie mit dieser Extremsituation umgehen… Na ja, nachher ist man immer schlauer“, sagt Patricia rückblickend. Wenn sie in wenigen Tagen mit ihrem Söhnchen aus dem Krankenhaus entlassen wird, weiß sie: „Mein Papa hat mir fest versprochen, dass wir in den nächsten Wochen in eine größere Wohnung umziehen, damit Luciano-Ricardo sein eigenes Zimmer bekommen kann. Und meine Mama hilft mir bei der Pflege des Kleinen. Ich möchte nämlich so schnell wie möglich wieder zurück ins Gymnasium, damit ich die sechste Klasse nicht wiederholen muss. Bis zur Geburt lief es in der Schule nämlich ganz gut. Wie und ob ich das auch weiterhin schaffe? Keine Ahnung. Meine Eltern meinen, dass ich es – dass wir es gemeinsam packen.“ Und der junge Papa? Kevin guckt noch etwas scheu in das Bettchen, in dem der kleine Winzling mit dem Stupsnäschen liegt.„Irre, einfach irre“, meint er. „Was auch in den nächsten Wochen und Monaten passiert, ich will mich um meinen kleinen Sohn kümmern, immer für ihn sorgen. Ich werde mir jetzt so schnell wie möglich einen Ausbildungsplatz suchen und arbeiten gehen. Wir werden jeden Tag ein Stückchen mehr zusammenwachsen, da bin ich mir ganz sicher. Denn Patricia und ich lieben uns – eben wie eine richtige kleine Familie.”
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